Kann man so oder so sehen…

Es war einmal… nein, nur Spaß. Ein paar Jahre ist das Folgende allerdings schon her.

Ein Morgen in Hamburg. Das Wetter ist typisch hamburgisch: es windet, es ist bewölkt, der Regen tröpfelt ab und zu vom Himmel und manchmal schaut die Sonne hinter einer hellgrauen Wolke hervor. Die Kulisse ist ein wunderschöner Wanderweg an der Alster. Die Menschen gehen mit ihren Hunden spazieren. Eine an diesem Morgen stattgefundene Szene möchte ich mit Euch aus verschiedenen Blickwinkeln teilen.

Darstellende dieser Szene sind:

  • eine junge Frau (Frau Zag) mit ihrem Baby und ihre an der Leine geführten Hündin (Isi),
  • eine ältere Frau (Frau Rusti) mit ihren zwei freilaufenden Rüden (Fredi und Snö), die mit einer Mensch-Hund-Gruppe unterwegs sind und
  • eine freilaufende ältere Hündin (Bena), die wohl zu einem anderen Menschen aus der Gruppe gehört

(alle Namen sind von mir frei erfunden)

Folgend beschreibe ich die Szene, wie ich sie beobachtet und empfunden habe:

Die junge Frau Zag steht mit ihrem Baby und ihrer Hündin Isi am Wegesrand. Die Mensch-Hund-Gruppe geht auf demselben Weg dem Dreiergespann entgegen. Frau Zag und ihre Hündin verbindet eine Leine. Die Hunde aus der Gruppe laufen frei (sie gehen oder traben). Die Menschen bewegen sich in einem schlendernden Gang fort. Der Rüde Fredi trabt langsam zu Isi. Die Ruten der beiden Hunde stehen senkrecht nach oben. Die Hunde beriechen gegenseitig ihre Schnauzen und dann ihre Afterregionen. Die Ruten senken sich langsam. Fredi wendet sich von Isi ab und geht einige Schritte weiter. Währenddessen trabt Rüde Snö zu Isi. Die Ruten beider Hunde stehen senkrecht nach oben. Die Hunde beriechen sich gegenseitig im Schnauzenbereich. Snö wedelt mit seiner senkrecht nach oben gehaltenen Rute und hebt währenddessen schnell die Vorderpfoten im Wechsel auf und ab. Zwei bis drei Sekunden später bellt Isi Snö einmal kurz und deutlich an. Snö senkt seine Rute in Richtung Bauch und trabt davon. Die junge Frau Zag hält die Leine nun etwas kürzer und geht zwei Schritte vom Wegesrand auf die angrenzende Wiese. Sie führt Isi mit. In diesem Augenblick kommt Hündin Bena bei Isi an. Die Ruten beider Hündinnen hängen nach unten. Die Hunde beriechen sich gegenseitig im Schnauzenbereich. Im selben Moment fordert Frau Rusti die junge Frau Zag auf:

„So, jetzt halten Sie Ihren Hund aber zurück.“

Frau Zag erwidert:

„Leinen Sie doch bitte Ihre Hunde an.“

Frau Rusti antwortet mit leicht erhobener Stimme:

„Wieso denn? Dieser Hund ist alt und tut nichts.“

Frau Rusti geht zu Bena. Diese wendet sich aus dem Geschehen ab und geht weiter. Isi tritt einen Schritt zurück und schaut ihr Frauchen an. Frau Zag schüttelt ihren Kopf und lächelt verzweifelt. Auch Frau Rusti geht nun mit der Mensch-Hund-Gruppe weiter.

Was ich gerne gewusst hätte, ist, wie die beteiligten Menschen diese Szene beschrieben hätten. Es folgt nun meine persönliche Interpretation der Szene aus der Sicht der jungen Frau Zag:

Eigentlich wollte ich doch nur kurz diesen Weg zur Brücke nehmen. Als wir das letzte Mal hier waren, war nicht so viel los. Die Hunde da vorne hatte ich doch eben schon mal gesehen. Ich nehme Isi mal ran, dann werden die Menschen schon kapieren, dass mein Hund keinen Kontakt mit einer so großen Gruppe möchte. Ich mache denen Platz, damit sie schnell vorbeigehen können. Oh nein, jetzt kommt schon ein Hund zu uns gelaufen. Hoffentlich benimmt Isi sich. Zum Glück! Das verlief ja ruhig und friedlich. Oh, da kommt schon der nächste Hund. Hoffentlich klappt das noch mal. Die eine Frau in der Gruppe guckt schon so komisch rüber. Ach Isi! Warum musst du diesen Hund denn anbellen? Den anderen hast du doch auch friedlich begrüßt. Jetzt läuft er weg. Na toll, jetzt kommt schon der nächste Hund. Eigentlich sehen die Menschen doch, dass ich Isi an der Leine habe. Warum reagiert denn keiner? Isi, bitte sei ruhig!

„So, jetzt halten Sie Ihren Hund aber zurück.“

Spinnt die?!? Ich kann meinen Hund nicht in mich hineinkriechen lassen. Ich halte sie doch schon kurz bei mir.

„Leinen Sie doch bitte Ihre Hunde an.“

Ihre Hunde kommen doch einfach zu uns gelaufen.

„Wieso denn? Dieser Hund ist alt und tut nichts.“

Tsss! Die hat sie doch nicht mehr alle. Darum geht es doch gar nicht! Dazu fällt mir nichts mehr ein. Hoffentlich geht sie nun weiter.

Dann spule ich in meinem Kopf die Szene noch einmal zurück und probiere mich an einer Interpretation der Szene aus der Sicht der älteren Frau Rusti:

Das Wetter könnte aber nun auch mal besser werden. Sind alle Hunde da? Fredi, ja, und Snö, ja, da vorne. Ach! Da ist ja schon wieder dieser Hund. Hatte die Frau nicht eben schon mal einen Bogen um andere Hunde gemacht? Na ja, gut, dass meine Hunde nichts tun. Wo sind die beiden? Oh! Fredi ist bei diesem Hund. Ach, der Hund ist ja doch nett, hat ja gar nichts gemacht. Snö?! Oh, jetzt ist er bei dem Hund. Oh wie niedlich. Er möchte mit dem Hund spielen. Das kann doch nicht wahr sein! Wieso knurrt der Hund denn Snö an? Er hat doch gar nichts gemacht. Oh nein, jetzt hat Snö Angst! Also wenn die jetzt nicht mal ihren Hund bei Seite nimmt, dann kann das ja noch was geben. Ach du meine Güte, jetzt ist Bena bei dem Hund angekommen. Jetzt muss ich was sagen, bevor noch etwas Schlimmeres passieren wird.

„So, jetzt halten Sie Ihren Hund aber zurück.“

Irgendeiner musste das ja mal sagen!

„Leinen Sie doch bitte Ihre Hunde an.“

Was ist denn das für eine Frechheit?!? Unsere Hunde laufen hier jeden Tag um dieselbe Uhrzeit und die sind hier nie angeleint! Die tun doch nichts. Gerade Bena nicht. Das ist eine nette, ruhige und ältere Hundedame.

„Wieso denn? Dieser Hund ist alt und tut nichts.“

Ihr Hund sollte mal ein bisschen mehr Respekt vor dem Alter haben. Komm, Bena, ich helfe dir. Nicht, dass noch etwas passiert.

Was ungemein spannend ist, wie die vier beteiligten Hunde die Szene beschrieben hätten, wenn sie es uns auf „menschisch“ erzählen könnten. Deswegen folgt jetzt meine persönliche – natürlich menschliche – Interpretation der Szene aus Sicht der angeleinten Hündin Isi:

Da kommt aber ein großes Rudel. Hunde und Menschen. Huch, ich spüre einen Zug an meinem Geschirr. Ein Hund aus der Gruppe nähert sich. Ein Rüde. Er verhält sich souverän und harmlos. Er kann Frauchen, dem Baby und mir nicht gefährlich werden… Ach herrje, wer bist du denn? Du bist aber ein unruhiger Artgenosse! Das ist nicht gut. GEH WEG! Gut, das hat er kapiert. Ich spüre wieder einen Zug an meinem Geschirr. Frauchen, was ist denn los? Ich kann mich bald nicht mehr bewegen und fühle mich unbehaglicher. Noch ein Hund, eine Hündin. Sie verhält sich freundlich und ruhig, das bedeutet keine Bedrohung. Das kann ich Frauchen sagen. Frauchen? Oh, ein anderer Mensch… Unruhe… Frauchen, wieso bewegst du deinen Kopf hin und her?

Wie mögen denn wohl die zwei Rüden diese Situation erlebt haben?

Fredi:

Ist meine Gruppe noch vollständig? Ja, das ist sie. Ich begrüße mal den anderen Hund da vorne: hallo, wer bist du? Du bist ein schickes Mädchen. Du wirkst etwas angespannt. Meinetwegen musst du das nicht sein. Ich gehe dann weiter. Immer locker bleiben! Macht vieles einfacher! … Der Trottel! Das ist peinlich! Ah, er hat sich eine Abfuhr geholt. Dann lasst uns mal weiterziehen.

Snö:

Dammm da dammm… düüdedüüdiiidöööö… lalala… Oh, ein neuer Duft. Den kenne ich noch gar nicht… düdelüüdelüüüü… lalalalala… tamtammmtadammmm… Oh! Wer ist denn das bei Fredi?!? Mal schnell hin da. Wer bist denn du? Oh wie toll! Ein Mädchen… Bist du nett? Ich bin nett! Und du? Ich bin nett…. und? Und? Und? … … ??? … … UUUPS!  Dann lieber schnell weg.

Und was ist mit der Hündin Bena?

Ein unbekannter Mensch mit Nachwuchs und einem Artgenossen. Fredi ist da… und schon wieder weg. Ach Snö, was ist denn da los? Hallo, wer bist du? Alles nicht schlimm. Nun aber mal weiter. Die Menschen wirken unruhig.

Ein bisschen Fantasie, ein bisschen Spinnerei, ein bisschen Subjektivität und ein bisschen Realität.

Kann man so oder so sehen… und doch noch mal anders.